Managing Uncertainty: Kaffeesatzlesen mit System
Der Blick in die Zukunft ist in der Pharmaindustrie in Entwicklung und Herstellung immer schon wichtig und mehr als Kaffeesatzleserei gewesen. Da sich aufgrund der aktuellen allgemeinen Situation derzeit viele Menschen mit diesem Thema beschäftigen, schien es uns angebracht, diese Aspekte einmal aus der CMC Sicht zu beleuchten.
In der letzten Folge haben wir uns mit dem Thema Risiko befasst. Das Risikomanagement versucht eine strukturierte Abschätzung von Ereignissen in der Zukunft, um die Auswirkungen dieser Er-eignisse unter Kontrolle halten zu können. Vielfach hört man daher „risk is measurable uncertainty“ und „uncertainty is unmeasurable risk“. Der Übergang zwischen Risiko und Ungewissheit kann also fließend sein.
Auch das Risiko Management bedient sich zur Aufklärung künftiger Ereignisse diverser Szenario-Techniken, wie es auch in Uncertainty Situationen üblich ist. Dort ist man allerdings mit einem Haufen von Fakten konfrontiert, die man nicht kennt, die man aber kennen könnte. Da diese Fakten vorerst unbekannt sind, ist es auch nicht vordergründig möglich, relevante Szenarien zu entwickeln.
Die Kunst besteht also darin, sich darauf vorzubereiten, dass das Unerwartete geschieht: expect the un-expected. Das Unerwartete ist deshalb unerwartet, weil man es zum Zeitpunkt der Vorbereitung nicht kennt. Man kennt es nicht, weil man keinen Zugriff auf Ressourcen (Experten, Daten) hat, mit deren Hilfe man die Transformation von „unbekannt“ zu „bekannt“ vollziehen könnte.
Managing Uncertainty Methoden arbeiten daher mit Werkzeugen, vorhandenes unbekanntes Wissen zu bekanntem Wissen zu verwandeln, d.h. es für die Entscheidungsträger und Planer verfügbar zu machen.
Das effektivste Mittel dafür ist, Szenarien zu entwickeln, die auf einer breiten Expertise basieren. Aber welche Experten benötigt man, wenn man die Szenarien einer unbekannten Zukunft erst entwickeln soll ?
Der einzige Weg ist, die Szenarien in kleine überschaubare Einheiten zu zerlegen. In diesen kleinen Schnipseln wird der Horizont soweit spezialisiert und damit verengt, dass wenige Experten die gesamte Bandbreite etwaiger Möglichkeiten überschauen können. Dazu gehört eine gewaltige Portion kreativer Phantasie von Fachleuten, um sich real vorstellbare Szenarien im eigenen Fachbereich ausmalen zu können, sie quasi durch ein Sieb zu geben, um sie von unrealistischen Szenarien zu trennen und schließlich mit denjenigen der anderen Expertenkreise zusammenzuführen.
Der Startpunkt wird immer eine Analyse der aktuellen Situation sein.
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Ich möchte Ihnen als Beispiel eine Geschichte erzählen:
Erster Schritt
Situationsanalyse und Fragestellung: für eine neu entwickelte Injektionsform muss eine Abschätzung einer Haltbarkeitsdauer erfolgen, um ein Verfalldatum festlegen zu können. Dieses muss festgelegt sein, bevor die realtime Daten aus der Stabilitätsprüfung vorliegen, weil die Kennzeichnungstexte erstellt werden müssen, um die Packmittel zu bedrucken und diese im Zulassungsverfahren von den Behörden genehmigen zu lassen. Es ist also eine seriöse Prognose erforderlich: wird das Produkt pharmazeutisch und chemisch stabil sein ?
Zweiter Schritt
Pharmazeuten und Chemiker werden sich zusammensetzen und einerseits auf der Grundlage der chemischen Expertise die Synthesenebenprodukte und Verunreinigungen des Wirkstoffs und seine Wechselwirkungen mit den anderen Bestandteilen der Darreichungsform ausführlich zu erörtern. Wenn darüber auf der Grundlage von Daten und Argumenten Einigkeit erzielt wurde, gibt es zwei Möglichkeiten:
Entweder man kommt zu der Einschätzung, eine hinreichende chemische und pharmazeutische Stabilität ist nicht zu erreichen. In diesem Falle wird man sich weitere Experten (z.B. Packmittelexperten oder Experten, die sich mit dem Herstellungsprozess sehr detailliert auskennen) hinzuziehen, um, zu überlegen, ob die Wahl eines geeigneten Packmittels oder eine Variation des Herstellungsprozesses einen positiven Einfluss auf die Stabilität haben könnte.
Oder: selbst mit Hilfe der weiteren hinzugezogenen Experten gelingt es nicht, eine ausreichende Stabilität zu erreichen. Dann ist eine neue Diskussion des gesamten Konzeptes fällig wie bei Monopoly: „Gehe zurück auf Los gehe nicht ins Gefängnis !“
Dritter Schritt
Man einigt sich auf der Grundlage von Daten, die nunmehr gezielt recherchiert bzw. bei weiteren Untersuchungen erhoben werden, darauf, dass die Formulierung trocken und vor Wassereinfluss geschützt hergestellt und verpackt werden muss. Das Ergebnis liefert eine Lyophilisation als Herstellungsprozess. Das Lyophilisat soll mit physiologischer Kochsalzlösung unmittelbar vor der Anwendung am Patienten rekonstituiert also aufgelöst werden.
Vierter Schritt
Gesagt – getan: das Arzneimittel ist fertig entwickelt, die Stabilität nach einschlägigen Richtlinien (z.B. ICH) nachgewiesen und auch die sog. in-use stability (also die chemische und physikalische Stabilität nach Auflösung in Kochsalzlösung) nachgewiesen. Das Produkt wird zugelassen und in USA Europa und Deutschland mit großem therapeutischen Erfolg eingesetzt.
Fünfter Schritt
Das Unerwartete tritt ein: Nach Auflösung in Kochsalzlösung ist die zu injizierende Lösung nicht mehr ganz klar und es gibt die ersten Berichte zur Arzneimittelsicherheit (Pharmakovigilanz). Der „Trübungs“-Effekt tritt aber nur in USA auf. Die dortige Behörde verlangt daraufhin die inline Filtration der Lösung vor Infusion. Es wird gerätselt, warum der Effekt nur in USA auftritt und nicht in Europa. Die verwendeten Kochsalzlösungen in USA und Europa stammen von demselben Hersteller in Europa, die Lagerungsbedingungen sind vergleichbar, für das Lyophilisat gibt es nur eine Produktionsstätte weltweit. Die Primärverpackung ist identisch für alle Länder.
Wie würden Sie vorgehen ?
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Ich will Ihnen verraten, was die Expertenrunde im Brainstorming beschlossen hat: es ist wieder eine detaillierte Situationsanalyse fällig. Man ließ sich Muster des eigenen Produkts und der verwendeten Kochsalzlösung kommen und es fiel allen wie Schuppen von den Augen: in Europa und Deutschland wird die Kochsalzlösung in Glasflaschen verwendet (dort stehen Aspekte wie Umwelt, Recycling, Sterilität etc. im Vordergrund) und in USA in Polyethylenbeuteln (dort greift eher die amerikanische Wegwerf-(
disposable) Mentalität, Glas sei außerdem sowieso viel zu schwer und geht kaputt beim Hinfallen). In beiden Fällen ist der Hersteller der Kochsalzlösung identisch.
Die Untersuchung der in USA gebräuchlichen Infusionsbeutel ergab: Es finden sich dort Schwermetallspuren im Kunststoff, die zwar unterhalb der erlaubten Grenzwerte liegen, aber ausreichen, um mit diesem Produkt eine Wechselwirkung einzugehen, in Folge zu mikrofeinen Ausfällungen und damit Trübungen zu führen.
Die Tatsache, dass in USA Kochsalzlösung in Beuteln und in Europa in Flaschen eingesetzt wurde, erinnert an die einleitenden Worte oben: diese Informationen waren nicht bekannt, hätten aber bekannt sein können oder sogar müssen. Man hat gelernt – und damit ist die Ungewissheit ein bisschen geringer geworden.
Industrielle Pharmazie kann ziemlich spannend sein – expect the unexpected !
Unser aller Freund Murphy ist überall und kann nur durch sehr detaillierte und sorgfältige Situationsanalysen und Szenario Techniken in Schach gehalten werden.