In diesen Zeiten, in denen wir uns zwischen Verschwörungstheorien, alternativen Fakten und unverständlichen Zusammenhängen orientieren müssen, scheint es mir angebracht, auch im GMP Zusammenhang das Entstehen von „Pseudo-Standards“ näher zu beleuchten.
Wie verläuft die Meinungsbildung bei der Interpretation von GMP Anforderungen?
Betrachten wir zunächst die Zielsetzung von GMP: GMP liefert den Rahmen zur Qualitätssicherung von Arzneimitteln. Eine definierte Qualität hat zum Ziel, den Patienten keinem Risiko auszusetzen, das auf mangelnde Qualität des Arzneimittels zurückzuführen ist.
Es geht also um Patientensicherheit. Ob das Motiv zur Gewährleistung dieser Patientensicherheit primär ethisch oder ökonomisch geprägt ist, spielt im Ergebnis keine Rolle. Maßgeblich ist: die durch GMP gesetzten Standards müssen eben diese Qualität ermöglichen.
Insofern ist es nicht zu akzeptieren, dass diese Standards aus individuellen Interpretationen entstehen oder gar durch Influencer oder Meinungsbildner bestimmt werden, die sich in erster Linie an einem vermeintlichen Mainstream orientieren.
Das bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist wohl die weitverbreitete Auffassung, dass unter Validierung die Herstellung dreier Chargen unter identischen Bedingungen zu verstehen sei.
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Die genauere Betrachtung der Entstehungsgeschichte dieser Auffassung zeigt jedoch folgendes:
Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA hat bereits in 1987 in ihrer Richtlinie zur process validation die Definition der Prozessvalidierung wie folgt vorgenommen:
Process validation is establishing documented evidence, which provides a high degree of assurance that a specific process will consistently produce a product meeting its predetermined specifications and quality characteristics.
Diese Richtlinie wurde in 2011 überarbeitet und dann hieß es:
For purposes of this guidance, process validation is defined as the collection and evaluation of data, from the process design stage through commercial production, which establishes scientific evidence that a process is capable of consistently delivering quality product. …
Dort ist keine Rede von drei identischen Herstellungschargen, sondern es wird auf die documented bzw. später scientific evidence abgehoben.
Dennoch wird seit vielen Jahren auch von Inspektoren auf der Grundlage von EU-GMP Annex 15 gefordert, dass drei Herstellungschargen zu fertigen seien, um den Nachweis einer Prozessvalidierung zu erbringen.
Dabei wird gern übersehen, dass durch drei Chargen unter identischen Bedingungen lediglich der Nachweis erbracht werden kann, das eben unter diesen Bedingungen dieselben Resultate erzielt werden. Annex 15 spricht daher im Rahmen der „traditionellen Prozessvalidierung“ von einem Beleg für die Reproduzierbarkeit. Dieser befreit jedoch nicht von dem Nachweis, „dass der Prozess mit hoher Sicherheit beständig ein Produkt der gewünschten Qualität hervorbringt.“ Nur unter der Voraussetzung dieses Nachweises gilt die Ergänzung:
5.20 Unbeschadet des Absatzes 5.19 gilt es allgemein als akzeptabel, dass mindestens drei aufeinanderfolgende, unter Routinebedingungen hergestellte Chargen eine Validierung eines Prozesses darstellen können. …
Es kann allein durch die drei Chargen weder gezeigt werden, welche Qualitätsparameter sich ändern, wenn Prozessparameter verändert werden, noch ist es möglich, die Wechselwirkung verschiedener Prozessparameter auf die Produktqualität zu erfassen. Dies wird erst möglich durch Anwendung der Grundsätze aus der ICH Q8 Richtlinie Pharmaceutical Development.
Eine Sachkundige Person wird die Beurteilung, ob eine Herstellung als validiert gelten kann, heute hoffentlich auf der Grundlage der documented evidence, also der Ergebnisse aus den Untersuchungen wie z.B. bei ICH Q8 oder EU-GMP Annex 15 gefordert, vornehmen.
Auch wenn sie nicht persönlich für die Durchführung der Validierungsmaßnahmen verantwortlich ist (das wäre im Zweifel die Zuständigkeit der Leitung der Herstellung) muss die QP in der Lage sein, zu beurteilen, ob eine Charge als validiert anzusehen ist oder nicht, weil diese Feststellung freigaberelevant ist.
Bis heute ist vielen Beteiligten nicht in letzter Konsequenz bewusst, welche Qualifikationen eine sachkundige Person besitzen muss, welche Verantwortlichkeiten sie hat und wie sie abzugrenzen ist gegen die Leitung der Herstellung und die Leitung der Qualitätskontrolle.
Ebenso ist meistens unklar, welche persönlichen Haftungsrisiken eine sachkundige Person nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers hat und warum sie in manchen Fällen die Freigabe einer Charge ablehnen MUSS.
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Dazu wieder eine Anekdote:
Als Contract QP wurde mir wurde zu Beginn in einer Firma ein gelernter Handwerker als Leitung der Herstellung vorgestellt.
Dieser Kollege habe jahrelange Erfahrung als Maschinenbediener an einer Verpackungslinie und sei dadurch als Leitung der Herstellung hinreichend qualifiziert, schließlich habe das Arzneimittelgesetz keinerlei Qualifikationsanforderungen an die Position der Leitung einer Herstellung.
Leider hatte man bei dieser Argumentation übersehen, dass die AMWHV in §4(1) im Einklang mit dem GMP Leitfaden fordert, dass Personal nur entsprechend seiner Ausbildung und seinen Kenntnissen eingesetzt werden darf.
Aus meiner Unterhaltung mit dem Kandidaten wurde bald klar, dass dieser Kollege über nur sehr marginale Kenntnisse der GMP Zusammenhänge verfügte und somit die Forderung aus der AMWHV nicht erfüllen konnte.
Ich lehnte daher diesen Kollegen, den ich menschlich sehr schätze, als Funktionsinhaber für die Leitung der Herstellung, auf deren Kompetenz die QP sich verlassen muss, ab. Man kann sich vorstellen, dass diese meine Einschätzung meine Beliebtheit weder beim Management noch beim Kollegen wesentlich gesteigert hat.
Für mich ist nicht erst seit diesem Erlebnis das Verständnis und die Durchsetzung von GMP Anforderungen untrennbar mit der fachlichen Kompetenz der sachkundigen Person verbunden. Leider ist diese Qualifikation allein erfahrungsgemäß nicht ausreichend. Ebenso sollte sie über persönliche Qualifikations-Merkmale verfügen, um ihrer Funktion gerecht werden zu können.
Zu diesen Persönlichkeitsmerkmalen gehören wohl Durchsetzungsfähigkeit, schnelle aber zielgerichtete und sichere Meinungsbildung, detaillierte Kenntnis der Regelwerke, fundierte Entscheidungsfähigkeit und Unerschrockenheit und Standfestigkeit bei der Durchsetzung von GMP Notwendigkeiten auch gegenüber dem Management.
Leider haben sich dennoch zahlreiche vermeintliche GMP Standards als „Meinungen“ in der Branche etablieren können, für die es in den Regelwerken keine tatsächliche Grundlage gibt. Dazu ein paar Erfahrungen, die immer wieder anzutreffen sind:
- Man glaubt, Verträge brauche man nur mit Lohnherstellern (Anmerkung: heute ist die Zielgruppe als „outsourced activities“ wesentlich weiter gefasst)
- Audits werden oft nur gemacht, weil sie im Rahmen der Lieferantenqualifizierung vorgeschrieben sind und nicht, weil sie Erkenntnisse über die zu erwartende Ergebnisqualität der Dienstleistung liefern sollen. Entsprechend entsteht ein nicht zu rechtfertigender und unqualifizierter „Audit-Tourismus“
- Spezifikationen werden immer noch häufig so definiert, dass alle Produkte innerhalb der definierten Spezifikationsgrenzen bleiben und damit eine Sperrung möglichst vermieden wird. Damit ist aber eine Spezifikation nicht mehr spezifisch und diskriminiert nicht zwischen tatsächlichen Qualitätsunterschieden.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass dem erstmalig vor über 30 Jahren von der FDA genannten Aspekt “documented evidence“ viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Somit haben die Sachkunde als Grundlage für fachkompetente Entscheidungen sowie die vernünftige Gestaltung des GMP Rahmens z.B. durch angemessen gestaltete SOPs eine viel größere Bedeutung bekommen als heute gemeinhin angenommen.
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