In diesen Zeiten, in denen wir uns zwischen Verschwörungstheorien, alternativen Fakten und unverständlichen Zusammenhängen orientieren müssen, scheint es mir angebracht, auch im GMP Zusammenhang das Entstehen von „Pseudo-Standards“ näher zu beleuchten.

Wie verläuft die Meinungsbildung bei der Interpretation von GMP Anforderungen?

Betrachten wir zunächst die Zielsetzung von GMP: GMP liefert den Rahmen zur Qualitätssicherung von Arzneimitteln. Eine definierte Qualität hat zum Ziel, den Patienten keinem Risiko auszusetzen, das auf mangelnde Qualität des Arzneimittels zurückzuführen ist.

Es geht also um Patientensicherheit. Ob das Motiv zur Gewährleistung dieser Patientensicherheit primär ethisch oder ökonomisch geprägt ist, spielt im Ergebnis keine Rolle. Maßgeblich ist: die durch GMP gesetzten Standards müssen eben diese Qualität ermöglichen.

Insofern ist es nicht zu akzeptieren, dass diese Standards aus individuellen Interpretationen entstehen oder gar durch Influencer oder Meinungsbildner bestimmt werden, die sich in erster Linie an einem vermeintlichen Mainstream orientieren.

Das bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist wohl die weitverbreitete Auffassung, dass unter Validierung die Herstellung dreier Chargen unter identischen Bedingungen zu verstehen sei.

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Eine Sachkundige Person wird die Beurteilung, ob eine Herstellung als validiert gelten kann, heute hoffentlich auf der Grundlage der documented evidence, also der Ergebnisse aus den Untersuchungen wie z.B. bei ICH Q8 oder EU-GMP Annex 15 gefordert, vornehmen.

Auch wenn sie nicht persönlich für die Durchführung der Validierungsmaßnahmen verantwortlich ist (das wäre im Zweifel die Zuständigkeit der Leitung der Herstellung) muss die QP in der Lage sein, zu beurteilen, ob eine Charge als validiert anzusehen ist oder nicht, weil diese Feststellung freigaberelevant ist.

Bis heute ist vielen Beteiligten nicht in letzter Konsequenz bewusst, welche Qualifikationen eine sachkundige Person besitzen muss, welche Verantwortlichkeiten sie hat und wie sie abzugrenzen ist gegen die Leitung der Herstellung und die Leitung der Qualitätskontrolle.

Ebenso ist meistens unklar, welche persönlichen Haftungsrisiken eine sachkundige Person nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers hat und warum sie in manchen Fällen die Freigabe einer Charge ablehnen MUSS.

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Für mich ist nicht erst seit diesem Erlebnis das Verständnis und die Durchsetzung von GMP Anforderungen untrennbar mit der fachlichen Kompetenz der sachkundigen Person verbunden. Leider ist diese Qualifikation allein erfahrungsgemäß nicht ausreichend. Ebenso sollte sie über persönliche Qualifikations-Merkmale verfügen, um ihrer Funktion gerecht werden zu können.

Zu diesen Persönlichkeitsmerkmalen gehören wohl Durchsetzungsfähigkeit, schnelle aber zielgerichtete und sichere Meinungsbildung, detaillierte Kenntnis der Regelwerke, fundierte Entscheidungsfähigkeit und Unerschrockenheit und Standfestigkeit bei der Durchsetzung von GMP Notwendigkeiten auch gegenüber dem Management.

Leider haben sich dennoch zahlreiche vermeintliche GMP Standards als „Meinungen“ in der Branche etablieren können, für die es in den Regelwerken keine tatsächliche Grundlage gibt. Dazu ein paar Erfahrungen, die immer wieder anzutreffen sind:

  • Man glaubt, Verträge brauche man nur mit Lohnherstellern (Anmerkung: heute ist die Zielgruppe als „outsourced activities“ wesentlich weiter gefasst)
  • Audits werden oft nur gemacht, weil sie im Rahmen der Lieferantenqualifizierung vorgeschrieben sind und nicht, weil sie Erkenntnisse über die zu erwartende Ergebnisqualität der Dienstleistung liefern sollen. Entsprechend entsteht ein nicht zu rechtfertigender und unqualifizierter „Audit-Tourismus“
  • Spezifikationen werden immer noch häufig so definiert, dass alle Produkte innerhalb der definierten Spezifikationsgrenzen bleiben und damit eine Sperrung möglichst vermieden wird. Damit ist aber eine Spezifikation nicht mehr spezifisch und diskriminiert nicht zwischen tatsächlichen Qualitätsunterschieden.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass dem erstmalig vor über 30 Jahren von der FDA genannten Aspekt “documented evidence“ viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Somit haben die Sachkunde als Grundlage für fachkompetente Entscheidungen sowie die vernünftige Gestaltung des GMP Rahmens z.B. durch angemessen gestaltete SOPs eine viel größere Bedeutung bekommen als heute gemeinhin angenommen.